Adventsbock

Besinnliche Geschichten aus dem Block

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Die Könige vom Kaiserstuhl

«Chreschtian? Ech machs glich ned… CHRESCHTIAN?» Doch Christian* antwortete nicht. Er konnte mich auch gar nicht hören. Denn er war bereits weg. Da stand ich also – halbnackt in der Herren-Toilette am Rande eines Fussballspiels irgendwo in der süddeutschen Pampa. Di merda – wie man damals so zu sagen pflegte. Aber alles der Reihe nach.

Vor fast einem Jahrzehnt, konkret im Juli 2011, wurde unser Verein unter der damaligen Leitung von Murat Yakin zu einem Saisonvorbereitungs-Turnier in die baden-württembergische Gemeinde Bahlingen eingeladen. Der FCL ersetzte im Teilnehmer-Quartett den Getafe C.F., welcher kurzfristig absagen musste. Es wurde für mich einer der schönsten weil unbeschwertesten Ausflüge, die ich im Zusammenhang mit meinem Verein jemals miterleben durfte. Am seit 1985 stattfindenden Kaiserstuhl-Cup, an welchem bereits namhafte Clubs wie Leeds United, Borussia Dortmund oder Roter Stern Belgrad teilgenommen haben, spielte der FCL am ersten Tag gegen den Gastgeber aus Bahlingen. Ich muss gestehen, dass ich mich nicht an das Resultat erinnern kann. Asche über mein Haupt! Aber wer – ausser den Mitreisenden – hätte denn überhaupt (noch) gewusst, dass der Bahlinger SC einst ein Gegner unseres FCL war?

Manchmal geht es beim Fussball auch viel mehr um das Miteinander neben – als um das Gegeneinander auf – dem Platz. Auch die zweite Partie des Tages zwischen Rot-Weiss Essen und dem SC Freiburg konnte nicht von der überaus grosszügigen Gastfreundschaft des Bahlinger SC ablenken. Lediglich der aus Essen angereiste Pöbel störte die Heimspielatmosphäre mit akkustischem und optischem Support für ihre Mannschaft, sodass wir feststellen mussten, dass wir nicht die einzige grössere Gruppe mehrheitlich ultraorientierter Fans auf Platz waren.

Korkenknall’em doch a Chopf!

Die Platzhirsche waren dennoch wir. Ein ausgewogenes kulinarisches Angebot zu – selbst für unsere jugendlichen Verhältnisse – spottbilligen Preisen half dabei stark! Vor allem die Sekt- und Weisswein-Flaschen haben es uns angetan. Sommerliches Wetter und kaum oder nur rudimentär vorhandene Sicherheitsvorkehrungen sorgten des Weiteren für eine wahrhaft ehrliche Grümpelturnier-Atmosphäre. Die Security war zwar zwischenzeitlich überfordert, liess unsere Spasstruppe allerdings mehrheitlich gewähren und tat dadurch uns und allen anderen Zuschauern einen Gefallen. Selbst dann noch, als der wegknallende Korken beim Öffnen einer weiteren Sektflasche (unbeabsichtigterweise) im Gesicht eines Sicherheitsangestelten landete. Es blieb bei einer väterlichen Ermahnung. Vorbildlich!

Unterschiedliche Freundschaftsbeweise

Am Ende des ersten Turniertages versuchten einzelne von uns mit einem «Wollt ihr boxen?» bei den aus Essen angereisten Fans deren Absichten abzuklären. Rückblickend gesehen ganz schön übermütig. Diese entgegneten mit einem «Mit wem habt denn ihr Freundschaft?». Als ob eine Beantwortung dieser Frage vor einer jeder Hauerei das Selbstverständlichste wäre. Aber bitte, wir spielen mit offenen Karten.

Es war für sie dann wohl ein zu grosser Paradigmenwechsel, als sie feststellen mussten, dass wir keine Freundschaften mit anderen Fanszenen pflegen, sondern es uns nur um unseren Verein geht. «Alles ausser Luzern ist scheisse» halt. Fakt! Wir waren ihnen in diesem Moment wohl zu krass (was für Kamikazee-Psychos wollen sich schon ohne namhafte befreundete Gruppen im Rücken prügeln?). Auf alle Fälle schlugen die Essener unser Angebot aus. Vorerst. Sie beteuerten nämlich, dass sie anderntags mit ihren Freunden aus irgend einem anderen Dreckskaff kommen würden. Und dann … Jaja, blabla, wir sind sowieso hier, macht was ihr wollt. ‹

Die Essener zogen von dannen, während wir noch ein paar Flaschen Sekt und Weisswein (im wahrsten Sinne des Wortes) vernichteten. Die meisten Luzerner wären zu dem Zeitpunkt sowieso bereits zu besoffen gewesen und wohl kaum einer hätte Bock gehabt, seine Sekt-Flasche beiseite zu legen und gegen eine Hauerei zu tauschen. Ich für meinen Teil sowieso nicht. Für etwas Geld durfte ich bei ein paar Dorfkindern auf dem frei gewordenen Fussballplatz mitkicken, bis ich einmal zu oft auf die Fresse fiel. Die zehn Euro waren die fünf Minuten dennoch wert.

Essen anstatt Essen

Nachdem es rund um den Sportplatz in Bahlingen langsam ruhiger wurde, zog es uns in die 20 km entfernte Studenten-Stadt Freiburg. Die rund 50 anwesenden Luzerner verteilten sich allerdings breit in der Stadt, weil der Weg mittels verschiedener Taxis zurückgelegt werden musste und sich alle woanders einquartiert hatten. Meine Taxi-Gesellschaft, die aus ein paar (bereits damals) älteren Fans bestand, löste sich nach einem Besuch beim Thai-Imbiss auf, weshalb ich fortan alleine on tour war. Die Wahl der Mahlzeit könnte Rückschlusse darauf geben welche bekannten Gesichter anwesend waren und den weiteren Verlauf meines Abends ebneten.

Lost in Freiburg

Wie dem auch sei. Mein Mobiltelefon hatte ich unvorteilhafterweise bereits am Morgen verloren. Nicht gerade praktisch, aber shit happens. Das war jedoch insbesondere auch deswegen problematisch, weil das Hotelzimmer, welches ich mir mit ein paar anderen unauffindbaren Jungs teilte, irgendwo zwischen Freiburg und Bahlingen lag. Irgendwo im Nirgendwo. Nachteilig wirkte sich zusätzlich aus, dass ich mir weder dessen Namen noch Ortschaft gemerkt hatte. Was also macht ein Luzerner alleine in einer fremden Stadt? Richtig, ab in einen Club, dort gibt es bestimmt auch etwas anderes als Bier, Weisswein und Sekt.

Die gleichzeitig gehegte Hoffnung, im Ausgangsviertel auf ein paar Innerschweizer zu treffen, gab ich allerdings im dritten Club innerlich auf. Nachdem ich aufgrund akut aufkommender Müdigkeit auch noch aus einem Tanzlokal rausgeschmissen wurde, verging mir langsam die Lust. Desillusioniert sass ich vor meinem nächsten Cuba Libre und realisierte langsam meine Situation. Fuck!

Schnaps hilft

Muss ich heute wirklich in der Gosse pennen? Um diese und andere Gedanken beiseite zu wischen, tat ich das einzig Richtige: Ich trank schneller. Bis plötzlich, wie aus dem Nichts, neben mir an der Bar eine Engelsgestalt in Form eines bekannten Luzerner Trunkenbolds auftauchte. Ich erinnere mich bis heute an die Erleichterung in diesem Moment – und er gemäss gemeinsamen Rückblicken genauso. Wie ein Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel, der von ein paar Fischern gerettet wird, musste ich ihn angesehen haben. Der Rest der Nacht ist kein Teil meiner Erinnerung mehr. Aber hey: Ich war gerettet!

Ein Glück kommt selten allein

Als ich meine Erinnerungen beim Aufstehen am zweiten Tages des Ausflugs wieder erlangte, war ich einfach nur froh. Ich war nicht nur in meinem Hotelzimmer aufgewacht (auch wenn dieses total überbelegt war), sondern hatte auch noch mein verloren gegangenes Natel zurück, welches aus irgendwelchen Gründen wieder aufgetaucht war. Oi oi oi! Was für ein Start in den Sonntag – ein Hoch auf Testspiele!

Und nochmals von vorne …

Am zweiten Tag des wohl grossartigsten Fussballturniers aller Zeiten trafen wir bereits lange vor der eigentlichen Stadionöffnung in Bahlingen ein und warteten auf dem aufgewärmten Asphalt der Parkplätze auf den Einlass. Und auf unser verdientes Sekt-Frühstück. Wir müssen ein erbärmliches Bild abgegeben haben. Der zweite Tag verlief anschliessend ähnlich wie der erste: Bestes Fussballwetter und kühle Getränke. Sogar Diego Maradona war anwesend. Oder einer der so ähnlich auszusehen versuchte.

Unwichtig. Während der ersten Partie zwischen Essen und Bahlingen kümmerten wir uns (wie am Vortag) mehrheitlich um das, was wir am besten konnten: Die Vereinskasse des Bahlinger SC aufzubessern und uns (und den Stephan Lehmann) gleichzeitig grosszügig mit alkoholhaltigen Getränken zu versorgen. Die Könige waren zurück!

Möchtegern-Spassbomben

Auch die Essener waren wieder da. Richtige Larries! Und sie hatten Spass. Allerdings etwas zu viel für meinen Geschmack. Ich hätte es noch erdulden können, hätten sie sich auf Spass-Support und Fackeln beschränkt. Doch als einer aus ihren Reihen dann auch noch vermummt und unter Anfeuerungsrufen und Gelächter über den Platz flitzte, drohte in meiner Wahrnehmung das Spass-Momentum zu Gunsten der Essener zu kippen.

Dabei hatte der sogar noch seine Socken an – dieses Schwein. Irgendetwas in mir wollte nicht zulassen, dass die Essener mehr Vergnügen haben können, als die «Hackejungs aus der Leuchtenstadt». Nein meine deutschen Freunde, das geht nun wirklich nicht. Während der zweiten Partie (Luzern gegen Freiburg) nahm ich daher meinen guten Freund und langjährigen Gefährten Christian zur Seite und erklärte ihm mein Vorhaben: Ich wollte ebenfalls über den Platz flitzen! Aber sicherlich nicht so doof vermummt wie der Essener. Ansonsten wurde niemand eingeweiht.

Das Imperium schlägt zurück

So stand ich also, wie eingangs Text erwähnt, in einer abgeschlossenen Kabine auf dem Männer-WC. Nicht nur mit heruntergelassenen, sondern ganz ohne Hosen. Diese hatte ich Christian ein paar Augenblicke zuvor unter der Trennwand hindurch in die Hände gedrückt. Dieser sollte auf der gegenüberliegenden Seite des Feldes auf mich warten, damit ich mich nach meinem Freiluft-Sprint sofort wieder anziehen kann. Ich wollte nach der Gala schliesslich nicht total beschämt und (weiterhin) nackig den Weg zurück zur Start-Toilette antreten um meine Boxershorts zu suchen. Klever! Wie sonst machen das richtige Flitzer? Natürlich mit Komplizen!

Doch als ich dann, so ganz alleine und entblösst am stillen Örtchen, den frischen Wind um meinen nackten Unterkörper wehen spürte und die Spielatmosphäre hörte, packte mich die Angst. Verdammte scheisse, was mach ich hier? Verzweifelt rief ich nach Christian. Doch Christian war nicht mehr da, sondern führte den besprochenen Plan gefolgstreu um. Ein richtiger Ehrenmann eben. Anziehen konnte ich mich also nicht mehr. In der Hosentasche war immerhin noch mein (wieder gefundenes) Smartphone, um mich bemerkbar zu machen. Doch: Wo zum Teufel waren meine Hosen? Richtig…

Nun gut. Wenn man eine grosse Fresse hat, dann muss man eben auch mal Eier zeigen (im wahrsten Sinne des Wortes). Immerhin war ich nicht komplett nackt. Ich hatte noch mein Paraguay-Trikot von Roque Santa Cruz an. Eine Art persönliches Statement gegen die Brasilien, England und Deutschlands dieser Welt. Irgendwann wird «La Albirroja» Weltmeister – und wenn man dazu Chilavert reaktivieren muss. Egal. Nebst minimem (Sicht-)Schutz gab mir dieses Trikot auch das nötige Selbstvertrauen: «Ich, Roque»!

Auf jetzt!

Ich riss die Tür auf. Beim Herausrennen bemerkte ich verwundert, dass am Pissoir zwei Luzerner standen, einer davon mittlerweile ein Rüüdiger. Theoretisch hätte ich meinen Flitzersprint noch abblasen können, aber ich war praktisch schon bei den Absperrgittern zur improvisierten Tribüne. Die Maschine lief. Zack, über die Bande. Und plötzlich stand ich da auf dem Feld, auf dem sich meine damaligen Idole gegenseitig den Ball zukickten. Mir wurde schlagartig bewusst, dass ich mein Vorhaben nicht ganz zu Ende gedacht hatte. Das Spielfeld hat auch in der Breite eine gewisse Länge. Heute mehr denn je.

Ich kann euch eines sagen… dieses Gefühl… katastrophal. Ganz, ganz schlimm. Von jetzt auf gleich stehst du nackig auf dem Feld. Die 6000 registrierten Zuschauer schauen nicht mehr auf den Ball, sondern sehen dir zu, wie du total planlos durch die Gegend tänzelst. Zumindest liesse sich dies anhand der Bilder in der Lokalpresse erahnen – sehr filigran aber total verwirrt. Du hast dir dazu ja keine Taktik überlegt und keine Laufwege einstudiert, wie sie die Spieler täglich trainieren, sondern bist einfach losgespurtet. Jeden Schritt musst du neu improvisieren. Die vierfünfsechs Flaschen Sekt im Kopf, sind nun Fluch und Segen zugleich.

Schlussbouquett und Abgang

Jeder zurückgelegte Meter lässt die Ängste etwas mehr verblassen. Und ein anderes Gefühl überhand nehmen. Denn dieses Feeling, wenn du auf deine Leute zurennst und in ihre Gesichter blickst und gewisse vor Lachen fast kotzen und Tränen vergiessen und sie dich gleichzeitig auf den letzten Metern frenetisch anfeuern: unbezahlbar. Und wenn du dann in der Menge Christian siehst, der dir die Kleider entgegenstreckt (dies war enorm wichtig!) und du nur noch einen Katzensprung von den Zuschauerrängen entfernt – und somit fast schon in Sicherheit bist, dann war es das alles absolut wert. Bevor der Sprint zu Ende ging, führte mich mein Weg noch an der Spielerbank des FC Luzern vorbei, hinter welcher sich meine Leute (und meine Hosen) befanden. Daher rutschte ich mich vor Zibung und den anderen Auswechselspielern zum Abschluss noch in eine sexy Pose, ehe ich mich über die Bande rettete und mich so schnell anzog wie nie zuvor.

(K)eines Blickes würdig?

Auch wenn der SC Freiburg den sportlichen Teil des Kaiserstuhl-Cups 2011 gewann, so bin ich davon überzeugt, dass die wahren Sieger an diesem Wochenende wir waren. Wir waren die Könige vom Kaiserstuhl! Selbst der SC Bahlingen bedankte sich im Nachgang in den sozialen Medien bei den Anhängern des FC Luzern. Ganz im Gegensatz zum FCL. Dessen Spieler würdigten den Fans an diesen beiden Tagen einmal mehr keines Blickes (ausser als sie gezwungemassen dazu genötigt waren, weil sich ein Freikörperkultureller ein paar Meter vor ihrer Bank in Pose setzte). Die Nicht-Wertschätzung von mitreisenden Fans hatte beim FCL inkl. Mannschaft damals fast schon Tradition.

Von alten und neuen Freunden

Der Sprint war durch, das Spiel und das Turnier wenig später ebenfalls. Es ging wieder nach Hause. Geblieben sind die Geschichten eines unvergesslichen Wochenendes. Noch heute schwelge ich in diesen Erinnerungen. Was war das für ein grossartiges Fussballfest. An diesen beiden Tagen war das Glück auf Erden definitiv in Bahlingen zu Hause. Ich bin unendlich dankbar, konnte ich an diesem Wochenende dabei sein. Danke Jungs! Und würde ich irgendwann mal gefragt werden, mit wem wir denn «Freundschaft» hätten, dann bin ich geneigt ihm zu entgegnen: Mit dem Bahlinger SC – du Schwein!

*Name bekannt und möglicherweise geändert

Verfasst von BJAZ
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