Adventsbock

Besinnliche Geschichten aus dem Block

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Skandal auf Tribschen

Diese Geschichte ist etwas anders. Nicht weil sie einzigartig ist, sondern weil niemand von uns – davon muss man ausgehen – sie persönlich erlebt hat. Sie spielt im Jahr 1922, und wir wissen nur deshalb von ihr, weil es vor 100 Jahren Menschen gab, die sie aus Leidenschaft für den FCL aufgeschrieben haben.

Es ist der 1. Oktober 1922. Eigentlich wäre an diesem Tag für den FCL ein ganz normales Auswärtsspiel in Biel auf dem Programm gestanden: 3h Zugfahrt mit der versammelten Mannschaft, bei Ankunft ein Mittagessen in einem Restaurant am Bahnhof. Am Nachmittag, solange das Tageslicht noch ausreicht, sollte gespielt werden. Danach ein Abendessen am See, vielleicht mit einem Glas Weisswein aus Twann. Nach dem Eindunkeln geht’s rechtzeitig los auf den letzten Zug zurück in die Leuchtenstadt. So oder so ähnlich hätte dieser 1. Oktober für die erste Mannschaft des FCL ausgesehen, hätten nicht aussergewöhnliche Ereignisse, welche in diesem Jahr zwei ganze Städte auf Trab hielten, alles anders kommen lassen.

Spitzenkampf auf dem grünen Rasen

Rückblende: Sonntag, 19. März 1922, der FCL empfängt den FC Biel in seiner damaligen Heimstätte auf Tribschen. Was heute nach Cup 1/16-Final klingt und kaum grosse Wellen wirft, ist an diesem Tag das Topspiel, auf das die Augen der Schweizer Fussballwelt gerichtet sind. Die beiden Vereine kämpfen um die Tabellenführung in der Zentralschweizer Gruppe der dreispurig geführten Serie A. Biel ist zu diesem Zeitpunkt eine blühende Industrie- und Fussballstadt. Der ansässige Fussballklub kann sich ein für damalige Verhältnisse hochkarätiges Team mit ungarischen und österreichischen Legionären leisten. Der FCL, seit seiner Gründung eigentlich mehr oder weniger konstant in der Serie B oder im Kampf gegen den Abstieg dorthin, kommt mit der ungewohnten Rolle als Gejagter an der Tabellenspitze nicht zurecht und wird diskussionslos 0-5 vom eigenen Platz gefegt.

Matchwerbung vor dem entscheidenden Heimspiel gegen den FC Biel. Meisterschaftsspiele wurden damals als Cupmatch bezeichnet.

Entscheidung am grünen Tisch

Doch dann kommt den Bielern ihre ambitionierte Kaderplanung in die Quere. Auf dem Spielfeld stand auch ein gewisser Albert Wilkins, angeblich ein Engländer, der während des ersten Weltkriegs als Internierter in der Schweiz gestrandet ist. Die Schweiz hat damals ausländische Kriegsverletzte in Luftkurorten unterbringen lassen. Wilkins verliebte sich während seines Aufenthalts im Berner Oberland. Nach Kriegsende liess er sich auf Bitten seiner Gattin in Interlaken nieder, wo er für den lokalen Fussballklub lizenziert wurde. Sein offensichtliches Talent blieb nicht unbemerkt und so kam es, dass der englische Ex-Profi plötzlich in der Startaufstellung des FC Biel auftauchte, mutmasslich ohne die dafür notwendige Spielerlizenz. All das scheinen die Verantwortlichen des FCL minutiös aus amtlichen Unterlagen rekonstruiert zu haben, denn offenbar war das Beweismaterial gut genug, um noch vor Spielbeginn am 19. März gegen die Spielberechtigung von Wilkins Protest einzulegen.

Der Protest schlug hohe Wellen in den Schweizer Sportgazetten. Der FC Biel forderte eine Abstimmung mit sämtlichen Verbandsmitgliedern, und verlor: mit 167 gegen 63 Stimmen fiel das Resultat deutlich zugunsten des FCL aus. Es war auch ein Sieg für all diejenigen Stimmen, die sich gegen das zunehmende Profitum im Schweizer Fussball aussprachen. Während sich die Bieler – am grünen Tisch um den sportlichen Erfolg gebracht – mit Händen und Füssen gegen das Verdikt wehrten, zog der FCL ins Finale um die Schweizer Meisterschaft ein. Im Basler Landhof zog er gegen Servette mit 2-0 den Kürzeren. Aus dem Nichts zum Vizemeister. Der FCL sollte für fast 70 Jahre nie mehr annähernd in die Nähe eines Schweizer Meistertitels kommen.

Beginn einer gehässigen Rivalität

Was aber in der Causa Biel gegen Luzern den ganzen Sommer hindurch folgte, war ein unablässiger Austausch von Nettigkeiten. Über die Presse und die vereinseigenen Clubzeitschriften bezichtigten sich die beiden Vereine gegenseitig der Lüge und Stimmungsmache. Der Ton wurde zunehmend gehässig. Im Juli luden die Bieler den Ostschweizer Meister, die Blue Stars Zürich, zu einem inoffiziellen Nachholspiel zwischen den «Siegern» der Ost- und Zentralschweizer Gruppe ein und kürten sich trotzig zum «Ehrenchampion».

Zurück zum 1. Oktober 1922, dem eigentlichen Tag dieser Geschichte: Die Saison war erst einen Spieltag alt und der FCL war nach einer schwachen Vorbereitung mit einer Niederlage gegen die Old Boys aus Basel gestartet. Beim FCL war man mit den Gedanken noch nicht im neuen Spieljahr angekommen. In der Clubzeitschrift äugte man schmollend zum neuen Erzrivalen: «Biel scheint die Enttäuschung des letzten Jahres noch nicht ganz verdaut zu haben. In den Bieler Tagesblättern wurden die ungünstigen Anfangsresultate unserer ersten Mannschaft mit grosser Schadenfreude kommentiert.»

Weil die Dinge aus dem Ruder zu laufen drohten, trafen die Luzerner für das erste Aufeinandertreffen der beiden Klubs nach der Protestaffaire Vorkehrungen. Auf ein Auswärtsspiel in Biel hatte man angesichts der hitzigen Ausgangslage keine Lust. Luzern, da waren sich die FCL-Verantwortlichen sicher, soll der geeignetere Austragungsort für die mit Spannung erwartete Begegnung sein: «Nach den früheren Erfahrungen, die wir mit dem Bieler Zuschauerpublikum gemacht haben, glaubten wir, dass dort nicht vergessen worden sei und ersuchten deshalb das Zentralkomitee in Genf, die erste Begegnung der beiden Mannschaften auf unserem Platz anzusetzen. Wir gingen dabei von der Annahme aus, dass nur eine allseitig korrekte, sportliche Durchführung dieses Treffens unserem Fussballsport nützen und unsere Beziehungen zum FC Biel einer Besserung entgegenführen könnte.» Offenbar waren die FCL-Verantwortlichen nicht allein mit der Einschätzung, dass auf die Besonnenheit des Luzerner Anhangs mehr Verlass sei, als auf die aufgebrachten Bieler. Dem Antrag wurde, warum auch immer, zugestimmt und so fand das Spiel anstatt im Gurzelen auf Tribschen statt.

So diplomatisch sich der FCL vor der Partie gab, so sehr war er sich der angespannten Lage bewusst. Schenkt man den Worten unseres berichterstattenden FCL-Fans vor 100 Jahren glauben, wurde die Mannschaft noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, sich im Spiel sportlich und fair zu präsentieren. Auch das Publikum wurde schon vor Spielbeginn von den Offiziellen von Klub und Verband gemassregelt. Generell, so heisst es, hätten «alle Vereinsorgane in beruhigendem Sinne auf das Publikum eingewirkt.» Um auf Nummer sicher zu gehen wurden zur Unterstützung zwei Polizisten ans Spiel abgeordnet.

Ein (erstes) neues Level der Gewalt

An diesem Punkt endet leider die detaillierte Berichterstattung über das weitere Geschehen. Von dem, was festgehalten wurde, lässt sich aber ein einigermassen gutes Bild zeichnen: Die Rede ist von Fehlentscheiden des Schiedsrichters, welche die Zuschauer «nervös» gemacht hätten. Von einer «scharfen Spielweise» der Bieler und einer «zum Teil kopflosen» Luzerner Mannschaft, die dies mit «grobem, unfairen Spiel» beantwortet habe. Irgendwann hielt sich auch das Publikum nicht mehr zurück. Dem Schiedsrichter entglitt die Kontrolle über das Geschehen vollständig, als er sich in einen Streit mit dem Linienrichter verstrickte, der vom FCL gestellt wurde.

Die Lektüre des zweiseitigen Spielberichts in der Novemberausgabe des FCL-Monatsblatts, Jahrgang 1922, lässt keine Zweifel offen: die Luzerner haben die Bieler gehörig vom Platz getreten. Der Schiri musste das Spiel in der 70. Minute beim Stand von 4-0 für den FC Biel abbrechen (der FCL verlor daher nur 3-0 forfait). Er wurde im Auto des FCL-Präsidenten höchstpersönlich an den Bahnhof gefahren, vorbei am wütenden Luzerner Mob.

 

Luftaufnahmen des Spielfelds auf Tribschen, Heimstätte des FCL von 1915-34, wo das Skandalspiel gegen den FC Biel stattfand. Das Spielfeld ist heute mit Wohnungen überbaut. Im Bild unten sieht man am oberen Bildrand das alte Spielfeld des FC Kickers in der Biregg. Das heutige Tribschenstadion liegt etwas weiter östlich, d.h. auf der grünen Flache im oberen Teil des oberen Bildes.

Der FCL, gönnerhaft, verzichtete diesmal auf einen Protest und akzeptierte neben einer Forfaitniederlage auch mehrere saftige Geldbussen (darunter Fr. 10.- für den Linienrichter). Trotzdem scheuten sich die Luzerner nicht, dem Schiedsrichter die Schuld für die Ereignisse dieses Nachmittags in die Schuhe zu schieben. Nicht ohne drohenden Unterton beantworteten die sie das Verdikt des Verbands mit der Ankündigung, dass man für den Fall eines weiteren Einsatzes des Schiedsrichters in Luzern keine Garantien für dessen Sicherheit abgeben könne. Christian Constantin hätte es nicht schöner formulieren können.

Die Querelen zwischen dem FC Biel und dem FC Luzern setzten sich derweil fort. Über insgesamt drei Saisons hinweg waren sich die beiden Vereine spinnefeind, bis sich der FC Biel 1924 in die Serie B verabschieden musste. Grund dafür war u.a. ein fehlgeschlagener Protest der Bieler. Diesmal waren sie es, die dem FCL vorwarfen, einen nichtlizenzierten Spieler eingesetzt zu haben. Der Bieler Angriff am grünen Tisch scheiterte jedoch am Rekursrichter und dem FCL blieb das Abrutschen auf den letzten Platz erspart. Der Fall in die Zweitklassigkeit folge aber im nächsten Jahr und so verliert sich die Erzählung und damit die Erinnerung an die erste eigentliche Rivalität, die der FCL über die Stadtgrenzen hinaus pflegte.

Verfasst von Incubator
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