Adventsbock

Besinnliche Geschichten aus dem Block

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Die «Schande von Thun»

Stell dir vor, du stehst auf der Treppe des Gästesektors. Du bist noch jung, sehr jung, aber dein Herz brennt. Für den FCL, für „ein Wahrzeichen seit 110 Jahren“, so wie es in grossen Lettern vorne am Zaun prangt. Nicht nur dein Herz brennt, es brennt auch in deiner Hand. Und im nächsten Moment krachst du die Treppen runter – und deine Fackel mit dir mit.

Es ist Matchtag. 15. Runde der NLA-Saison 2011/12. Dein Verein, der FCL, ist furios in die Meisterschaft gestartet. Er steht punktgleich mit dem FCB an der Tabellenspitze. Der heutige Gegner, der FC Thun hat seit acht Spielen nicht mehr gewonnen. Alle Anzeichen stehen auf Sieg. Doch zur Pause steht es nur 0:0. Dem FCL läufts heute überhaupt nicht – am Ende wird er trotz eines Tores von Hakan Yakin mit 1:3 verlieren. Dein Club ist nicht der einzige, der heute einen schlechten Tag erwischt. Du tust es ihm gleich:

Als du zum Anpfiff der zweiten Halbzeit mit dem nicht ganz ungefährlichen Gegenstand in der Hand auf halber Tribünenhöhe stehst und deine Mannschaft im wahrsten Sinne des Wortes anfeuern willst, spürst du nämlich einen Tritt in deinem Rücken. Du fällst, eine Stufe, zwei Stufen, überschlägst dich, drei Stufen … irgendwann stehst du wieder auf deinen Beinen, dein Gleichgewichtssinn ist aber noch immer orientierungslos. Du fällst noch eine Stufe weiter, diesmal rücklings. Beim zweiten Versuch klappt’s, du bleibst auf deinen Füssen. Und in deiner Hand? Leuchtet das Licht unerschrocken weiter. Weil du überhaupt noch nicht verstanden hast was geschehen ist, bleibst du einfach stehen, machst weiter, als wäre nichts passiert.

Filmreifer Skandal

Erst als du zu Hause ein Video siehst, das deinen Sektor zeigt, erkennst du, was vorgefallen ist. Du wurdest von hinten geschubst. War es der Heldenmut eines selbsternannten Kurvenpolizisten? Oder das unwillentliche Missgeschick eines vom Kaffee Träsch abgefüllten Innerschweizers? Die Meinungen gehen auseinander, die Diskussion verlagert sich vom Extrazug in öffentliche Fan-Foren und in die (Boulevard-)Presse.

Von Helden und Idioten

Boulevardesk wie (schon damals) üblich schaltet sich die ehemalige „Neue Luzerner Zeitung“ (NLZ) ein. Am Dienstag nach dem Spiel liest du dort: „Die Bilder schrecken ab. Auf Youtube kursiert ein Film, aufgenommen am Samstag beim National-Liga-A-Spiel zwischen Thun und Luzern. Im Luzerner Fansektor wird haufenweise Pyromaterial entzündet. Auf einmal springt eine Person eine Treppe hinunter, stösst einen der Fackelträger um, worauf dieser unkontrolliert und kopfvoran die Tribüne hinunterfliegt und mit ihm das brandheisse Material. Das Video ist gestern Nachmittag gesperrt worden, Kopien davon sind aber beispielsweise auf dem Onlineportal von „Blick“ aufgeschaltet. Das Zentralschweizer Fernsehen Tele 1 hat in seiner Nachrichtensendung vom Sonntagabend Bilder von diesem Film in einen Beitrag eingearbeitet.“ Voyeurismus pur.

Immer neue Episoden

In der Folge übertrifft sich die NLZ fast täglich mit immer abstruseren Berichten. Am Mittwoch schreibt sie von der „Schande von Thun“ und zitiert Walter Stierli, der „noch immer ausser sich“ und „wahnsinnig wütend“ sei. Er kündigt ein „letztes Gespräch mit den Fans“ an. Dieser „Dialog“, der am Donnerstagabend stattfindet, entpuppt sich als Monolog. Der FCL erklärt den anwesenden Fanvertretern, dass „bei nächsten Vorkommnissen mit Pyromaterial und/oder Knallpetarden“ ein „sofortiges Fahnen- und Doppelhalterverbot“ in Kraft trete und Verbandsbussen „am Mietzinsbeitrag des FC Luzern an das Fanlokal ‚Zone 5‘ in Abzug gebracht“ werde – ein Mietzinsbeitrag, den es notabene gar nicht gibt und nie gegeben hat.

 

Am Freitag liest du in der Zeitung plötzlich, dass du gar nicht „kopfvoran“ gestürzt bist, wie es noch am Dienstag geheissen hatte, sondern „rücklings“ und betrunken. Am Samstag dann scheint der (allerdings nur vorläufige) Höhepunkt erreicht. Auf Seite 2 fragt die NLZ rhetorisch: „Sind nicht die Interessen von Tausenden von Luzerner Fussballfans, die nichts weiter als einen schönen Fussballmatch geniessen wollen, höher zu gewichten als ein pfleglicher Umgang mit ein paar wenigen Unverbesserlichen, die mit ihren Fackeln und Petarden Angst und Schrecken verbreiten?“

Der damalige FCL-Trainer Murat Yakin fordert „konsequentere Strafen für jene, die mit Fackeln und Petarden die Stadien zuweilen fast in Kriegsgebiete verwandeln.“ Die NLZ geht noch weiter und verlangt: „Sperrt die Fanblöcke, in denen Sprengstoff gezündet wird! […] Und vor allem, ihr echten Fans: Habt endlich den Mut, gegen die dummen Störenfriede aufzustehen! Wehrt euch gegen jene, die unseren Fussball kaputtmachen!“

Das Spiel mit dem Feuer

Mal ehrlich und mit der nötigen (zeitlichen) Distanz: Es war gefährlich an diesem Novembersamstag in Thun. Allerdings nicht für die Ballbuben, wie dies verschiedene Medien (auch noch) behaupteten. Durchaus aber für dich. Und auch für die Gleichgesinnten rundherum. Mit heissen Sachen soll man vorsichtig umgehen, hat man dir schon als kleiner Bub gesagt. Du hast das verinnerlicht. Du warst vorsichtig. Trotzdem passierte, was nicht hätte passieren dürfen. Aber mit einem Tritt in den Rücken hast und konntest du nicht rechnen. Zum – und mit – Glück ging die Sache im Stadion soweit gut aus.

Ausserhalb des Stadions nahm die Geschichte allerdings einen Verlauf, der jenseits von gut und böse einzuordnen war. Für Kopfschütteln sorgt bei mir auch fast ein Jahrzehnt später die komplett undifferenzierte Berichterstattung, sowie der damals übliche Umgang der Clubleitung mit den Fans. Die NLZ so glaubwürdig wie das Fasnachtsblatt (ohne Träsch nicht zu geniessen). Und Walti im Umgang mit den sogenannten „Fans“ so patriarchalisch wie der Samichlaus – nur leider ohne Nüssli und Mandarinli.

In diesem Sinne wünscht der Verfasser dieses Artikels – ein „Angst und Schrecken“ verbreitender Chaot – allen einen besinnlichen Advent!

P.S.: Mehr über die angeblich bedrohten Ballbuben und was aus dem angedrohten Fahnenverbot wurde, liest der/die Interessierte hier nach.

 

 

 

Verfasst von Chaot
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